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Michel Barnier hat auf Order der Rechtsextremen Renten erhöht und Flüchtlingshilfen gesenkt – und am Ende doch verloren. Nun steht Frankreich wieder ohne Regierung da.
Annika Joeres / Zeit Online
Natürlich war Marine Le Pen an diesem denkwürdigen Abend in der meistgesehenen TV-Nachrichtensendung zu sehen, schliesslich war sie die entscheidende Protagonistin des Abends. Die rechtsextremen Abgeordneten von Le Pen hatten für einen Misstrauensantrag der linksgrünen Volksfront gestimmt und damit den Premierminister Michel Barnier gestürzt. Nun steht Frankreich ohne Regierung – und ohne neuen Haushalt da. Während also die Rechtsextreme im Fernsehstudio interviewt wurde, musste Barnier mit versteinerter Miene seiner Abwahl im Parlament zusehen. Rund 90 Tage, nach denen der frühere EU-Kommissar und Brexitverhandler zum Regierungschef wurde, ist er seinen Posten wieder los.
Marine Le Pen vor einem TV-Interview am Mittwochabend.Bild: keystone
In seiner Begründung für den Misstrauensantrag hat der linke Abgeordnete Éric Coquerel betont, diese Regierung müsse gestürzt werden, weil sie einen «brutalen Haushalt» mit vielen Kürzungen für die Ärmsten habe verabschieden wollen. Die linke Volksfront warf Barnier vor, keine Vorschläge aus ihren Reihen berücksichtigt zu haben, etwa zur Schuldentilgung eine Vermögenssteuer einzuführen. Le Pen hingegen behauptete, Barnier würde immer mehr Steuern nehmen wollen, um den Franzosen zugleich immer weniger öffentliche Angebote zu machen.
Barnier ist das Risiko seines Sturzes gewissermassen selbst eingegangen: Wohl wissend, dass er für seinen Haushalt keine Mehrheit finden wird, zog er am Montag die Sonderklausel 49.3. Sie erlaubt dem Premierminister, das Budget für 2025 ohne Abstimmung im Parlament durchzusetzen – und gesteht den Abgeordneten im Gegenzug zu, einen Misstrauensantrag zu stellen. Einen solchen hatte die Volksfront schon mehrfach angedroht, neu war nun, dass Marine Le Pen Barnier zu Fall bringen wollte. Dabei war Barniers Regierung inhaltlich so weit nach rechts gerutscht wie keine zweite zuvor. Denn Le Pen war von Anfang an in einer Schlüsselrolle: Weil Barnier und seine Parteifreunde von den konservativen Republikanern nicht mit dem linksgrünen Bündnis NFP verhandeln wollte, buhlte er für das Budget um die Stimmen der Rechtsextremen. Vergeblich.
Der gefallene Premierminister Michel Barnier.Bild: keystone
Nun ist Frankreich schon in der zweiten grossen Regierungskrise dieses Jahres, jeweils kurz bevor die Augen der Welt nach Paris blicken: Kurz vor den Olympischen Sommerspielen und am Abend der von ihm verlorenen Europawahlen rief Emmanuel Macron Neuwahlen aus. Bei diesen erreichte Anfang Juli keine Partei eine absolute Mehrheit. Nun wird Frankreich erneut ohne Regierung dastehen, wenn Hunderte Journalistinnen und Tausende Touristen nach Paris reisen, um die Wiedereröffnung von Notre-Dame, einer der meistbesuchten Kathedralen der Welt, zu bewundern.
«Wer mit den Rechtsextremen paktiert, wird verlieren»
Denn klar ist: Eine neue Regierung wird sich nicht so leicht finden lassen. Die meisten Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung stellt zwar die Neue Volksfront NFP, ein Bündnis aus Grünen, Sozialisten, Kommunisten und der radikallinken Insoumise. Sie haben aber keine ausreichende Mehrheit und wären daher darauf angewiesen, dass zumindest die Macron-Abgeordneten mit ihnen stimmen. Ihre gemeinsame Kandidatin Lucie Castets aber hat Macron schon im Sommer abgelehnt, weil sie angeblich keine ausreichenden Mehrheiten finden könnte – obwohl die NFP mit Macrons Abgeordneten ausreichend Stimmen für Gesetze gehabt hätte.
Macron wollte sie nicht als Premierministerin: Lucie Castets.Bild: keystone
Trotzdem zog Macron es im Sommer vor, mit den konservativen Republikanern zu paktieren – und auf die Gunst von Le Pen zu hoffen. Und missachtete damit die Brandmauer, zu der sich bei der Parlamentswahl im Juli alle Parteien – ausser den Konservativen von Barnier – zusammenschlossen, um die Kandidaten und Kandidatinnen von Le Pen auszustechen. Macron aber ernannte den Konservativen Barnier, also ausgerechnet einen Politiker der einzigen Partei, die nicht an der Brandmauer teilgenommen hatte. Ironischerweise ist nun genau Barnier passiert, was Macron zu vermeiden vorgab: Dass eine Regierung über die erste wichtige Abstimmung, den Haushalt, stürzen würde.
Die Erwartung an Barnier, als erfolgreicher Verhandler des Brexits auch eine Minderheitenregierung organisieren zu können, hat er offensichtlich nicht erfüllt. Er unterschätzte, dass Le Pen ihn tatsächlich jederzeit fallen lassen könnte: Lobte sie ihn am Anfang noch als guten Diplomaten, wurde ihr Forderungskatalog an ihn zuletzt immer länger, ihre Worte aggressiver. «Wer mit den Rechtsextremen paktiert, wird am Ende immer verlieren», sagt die grüne Vorsitzende, Marin Tondelier. Sie wohnt in einer nordfranzösischen Region, in der der Rassemblement National seit vielen Jahren Wahlkreise gewinnt und sagt: Kein Zugeständnis hält die Partei davon ab, am Ende zu ihren eigenen Gunsten zu entscheiden.
Le Pen hatte ihre Entscheidung wohl längst getroffen
Dabei hat Barnier tatsächlich vieles getan, um Le Pens Fraktion zum Bleiben zu bewegen. Bis zuletzt ging er auf ihre Forderungen ein, etwa auf die, im künftigen Haushalt weniger Geld zur Verfügung zu stellen, um kranke Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. Auch die Rente sollte auf ihr Drängen hin früher als von ihm geplant angehoben werden – das forderten auch die Sozialisten und Grüne, aber zuvor ohne Erfolg.
Aber all diese Zugeständnisse an die Rechtsextreme halfen nicht, sie umzustimmen: Le Pen hatte ihre Entscheidung, die Regierung zu stürzen, offenbar längst getroffen. Auch Barniers Warnung, dass ohne Budget möglicherweise keine Beamtengehälter mehr gezahlt werden könnten und die Krankenkassenkarte nicht mehr funktionieren würde, half nichts. Auch, weil seine alarmistischen Behauptungen von seinen eigenen Fachleuten, etwa Dominique Libault vom Rat der Krankenkassenfinanzierung, widerlegt wurden.
Demnach werden die meisten Französinnen und Franzosen in ihrem Alltag zunächst einmal nichts davon bemerken, dass es keinen verabschiedeten Haushalt gibt. Denn in dem Falle würde das Budget von 2024 erst einmal über ein Votum für 2025 gelten können. Langfristig aber könnten die Kosten für den französischen – und bereits jetzt stark überschuldeten – Staat steigen, etwa weil die Zinsen für Frankreich hoch gesetzt werden könnten und das Land noch stärker von seinen Finanzierern, allen voran China, abhängig würde.
Eine schier ausweglose Situation
Die französische Politik aber steht wieder da, wo sie schon im Juli, nach den Wahlen und kurz vor den Olympischen Sommerspielen stand: vor einer schier ausweglosen Situation.
Laut Verfassung kommt es Emmanuel Macron zu, einen Ministerpräsidenten oder eine Ministerpräsidentin zu bestimmen. Aber die Auswahl wird immer schwieriger. Eine sehr rechte Regierung ist nun am Misstrauensvotum von Le Pen gestürzt – kaum vorstellbar, dass nun wieder ein Konservativer in Barniers Fussstapfen tritt. Der frühere Premierminister ruft dazu auf, eine Koalition zu bilden aus Sozialisten, Macrons Abgeordneten und den Republikanern. Letzte aber hatten sich zuletzt so radikalisiert, etwa mit Forderungen nach null Einwanderung, dass die Sozialisten dies kaum annehmen können.
Der Druck auf Emmanuel Macron steigt.Bild: keystone
Marine Le Pen forderte im Fernsehen erneut Emmanuel Macron zum Rücktritt auf. Auch dies wird ihren Anhängern gefallen: Inzwischen befürworten 62 Prozent aller Franzosen und Französinnen, dass Macron sein Amt niederlegt. Unter den Le Pen-Wählern sind es allerdings 87 Prozent.
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