Die Türkei ist nun ein anderes Land

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Analyse

Die Festnahme des wichtigsten Erdogan-Kontrahenten Ekrem Imamoglu stellt die türkische Demokratie auf die Probe. Die EU könnte heute ein wichtiges Zeichen setzen.

Fritz Zimmermann / Zeit Online

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In dem Moment am Mittwochmorgen, als Hunderte Polizisten vor seiner Tür stehen, um ihn festzunehmen, stellt sich der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu in sein Ankleidezimmer und nimmt ein Video auf. Er bindet sich den Schlips, richtet sich den Kragen, als würde er in einen normalen Arbeitstag starten – und nicht gleich in Untersuchungshaft gebracht. Er spricht dabei ruhig in die Kamera. Der Wille des Volkes solle geraubt werden, sagt Imamoglu. Seine «geliebten Polizisten» würden dafür nun benutzt. Er wolle, sagt er, dass die ganze Nation wisse, dass er nicht aufgebe. «Wir stehen der Tyrannei gegenüber.» Imamoglu reckt die Faust in die Kamera und sagt, er vertraue sein Schicksal nun seinem Volk an.

Es gibt in der Geschichte von Nationen immer wieder Momente, die von einem auf den anderen Tag etwas verändern. In denen neues Terrain beschritten wird und die sich für immer ins kollektive Gedächtnis einprägen. Die Festnahme von Ekrem Imamoglu am Mittwochmorgen, dem Bürgermeister der grössten Stadt der Türkei, einem der beliebtesten Politiker des Landes und dem grössten Herausforderer des Präsidenten Erdogan, könnte für die Türkei ein solcher Moment sein. Die Festnahme ist ein Dammbruch, die Türkei ist nun ein anderes Land.

Fast schon tastend war der Staatsapparat in den vergangenen Wochen und Monaten vorgegangen. Immer neue Vorwürfe hatten Staatsanwälte gegen Imamoglu vorgebracht, hatten ihn mit Verfahren überzogen, die ihn für Jahre ins Gefängnis bringen könnten. Die Behörden hatten einen Politiker nach dem anderen festgenommen, Bürgermeister im kurdischen Osten des Landes ebenso wie Bezirksbürgermeister in Istanbul. Ein rechtsextremer Parteichef wurde festgenommen, Geschäftsmänner, sogar die Inhaberin einer Agentur für Schauspieler musste ins Gefängnis. Immer näher rückten die Behörden an Imamoglu heran und beobachteten, wie das Land reagierte. Es kam zu vereinzelten Demonstrationen. Aber der ganz grosse Widerstand blieb aus. Offenbar bestärkte das Präsident Erdogan, den nächsten Schritt zu gehen. Und seinen wichtigsten Gegner aus dem Spiel zu nehmen wie eine Figur beim Schach.

Weil er es kann

Am kommenden Sonntag wollte Ekrem Imamoglu sich zum Präsidentschaftskandidaten der kemalistischen CHP wählen lassen. Zum offiziellen Gegenspieler des Präsidenten. Eigentlich sind die nächsten Wahlen erst für das Jahr 2028 vorgesehen. Doch weil Amtsinhaber Erdogan aus rechtlichen Gründen nur bei einer vorgezogenen Neuwahl noch einmal antreten darf, ist jederzeit mit einer Wahl zu rechnen. Dafür wollte Imamoglu vorbereitet sein. Am Tag vor seiner Festnahme hatte die Universität Istanbul ihm allerdings bereits mit fadenscheinigen Gründen seinen Abschluss entzogen. Das Diplom ist eine formale Voraussetzung, um Präsident werden zu können. Seine Kandidatur schien damit vorerst blockiert. Warum also jetzt die Festnahme?

Auf diese Frage nach dem Warum folgt bei Recep Tayyip Erdogan oft eine sehr simple Antwort: Weil er es kann. Es gibt selbst in der internationalen Politik nur wenige, die so instinktiv und präzise erkennen wie Erdogan, wann sich eine Gelegenheit bietet, die Dinge zu den eigenen Gunsten zu wenden. So auch jetzt: Mit den neuen Machthabern in Damaskus, die von der Türkei unterstützt werden, geht in Syrien nach dem Sturz von Assad ohne Erdogan nichts, auch beim Krieg in der Ukraine kommt der Türkei eine zentrale Rolle zu. Die EU braucht das Land für die neue europäische Sicherheitsarchitektur und im Umgang mit der Migration. Und die USA mischen sich unter Donald Trump nicht in türkische Angelegenheiten ein.

In diesen Wochen bot sich Erdogan also die grosse Gelegenheit, seinen wichtigsten Kontrahenten auszuschalten, ohne international geächtet zu werden. Und Erdogan hat sie genutzt. Für Imamoglu, und für die Zukunft der Demokratie in der Türkei, wird entscheidend sein, wie genau die internationalen Reaktionen auf die Festnahme jetzt ausfallen. Am heutigen Donnerstag bietet sich eine erste Gelegenheit, das zu beobachten. In Brüssel treffen sich die EU-Regierungschefs, um unter anderem über die Verteidigung der Ukraine zu beraten.

Recep Tayyip Erdogan.Bild: keystone

«Das Ganze ist grösser als Imamoglu»

Dabei hatte es in den vergangenen Wochen aus europäischer Sicht eher ermutigende Nachrichten aus der Türkei gegeben. Schliesslich hatte der Friedensaufruf von PKK-Führer Öcalan die Hoffnung genährt, dass der jahrzehntelange Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der PKK in naher Zukunft enden könnte. Doch während die PKK daraufhin einen einseitigen Waffenstillstand ausrief, bombardierte die türkische Armee weiterhin Ziele der PKK im Nordirak. Und Imamoglu wurde nun auch wegen des Vorwurfs festgenommen, er habe die PKK unterstützt – offenbar weil er bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr, als er als Bürgermeister wiedergewählt wurde, auch mit der prokurdischen DEM-Partei zusammengearbeitet hatte.

«Das Ganze ist grösser als Imamoglu», sagt Sinem Adar, Politikwissenschaftlerin am Centre for Applied Turkey Studies bei der SWP in Berlin. In einem ersten Schritt gehe es der Regierung darum, die Opposition zu spalten. «Die Kurden sind jetzt in einer schwierigen Situation», sagt Adar. Halten sie zu Imamoglu, und bleiben bei ihrem Kampf für eine demokratische Türkei? Oder führen sie die Verhandlungen mit der Regierung über den langersehnten Frieden weiter? In einem zweiten Schritt gehe es um die Zersetzung der CHP, sagt Adar – der Partei von Staatsgründer Atatürk. Nicht nur Imamoglu sitzt in Untersuchungshaft, mehr als 100 weitere Personen aus seinem Umfeld wurden am Mittwoch ebenfalls festgenommen. Einzelne Bezirksbürgermeister, sein Presseberater, Geschäftsmänner, Journalisten. Adar geht davon aus, dass die Festnahmen Teil des Versuchs sind, eine «systemische Opposition» zu schaffen. Eine Opposition also, die wie etwa in Russland den Präsidenten zwar auf dem Papier noch herausfordert, in Wahrheit aber nur als Feigenblatt existiert – und dem System so Legitimation verschafft.

Das persönliche Risiko bei Protesten ist gross

Noch offen ist, wie die Gesellschaft in der Türkei auf die Festnahmen reagiert. Traditionell sehen grosse Teile der Bevölkerung jeden Versuch, mithilfe der Justiz in die Politik einzugreifen, überaus kritisch. Der Bürgermeister Imamoglu ist zudem in verschiedenen Teilen der Gesellschaft beliebt. Nach den Festnahmen kam es zu kleineren Protesten vor den Parteizentralen, an Universitäten. Am Abend versammelten sich in mehreren Grossstädten Tausende Menschen zu Kundgebungen. Aber es kam noch nicht zu Massendemonstrationen. Das persönliche Risiko bei Protesten ist gross, in Istanbul wurden Demonstrationen schon am Morgen vorsorglich für vier Tage verboten.

Trotz Verbot demonstrieren Menschen in Istanbul.Bild: keystone

Oft wurde in den vergangenen Jahren nach Angriffen auf die Opposition, und insbesondere auf Imamoglu, die eigene Geschichte von Präsident Erdogan bemüht. Als aufstrebender Bürgermeister von Istanbul war Erdogan in den Neunzigerjahren einst selbst wegen politischer Äusserungen verurteilt worden und kam in Haft. Seine Popularität in der türkischen Bevölkerung wuchs durch die Verhaftung damals allerdings, auch deswegen gelangte er später ins Amt. Der Vergleich zu Imamoglu liegt auf der Hand. Wenn jemand wissen sollte, hiess es immer wieder, dass die Festnahme von populären Oppositionspolitikern einer Regierung auf die Füsse fallen kann, dann Erdogan selbst.

Dieser Vergleich aber hat einen Haken. Es gab Zeiten, da zogen Erdogan und seine AKP-Partei ihre Legitimation aus ihren Wahlergebnissen. Aus der Zustimmung der einfachen Bevölkerung. Die eigene Popularität war der Regierung wichtig, um vor dem mächtigen Militär geschützt zu sein, oder dem Durchgriff einer damals kemalistischen Justiz. Doch diese Zeiten, das zeigt die Festnahme des wichtigsten Oppositionspolitikers des Landes, sie scheinen vorbei zu sein.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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